Wie viel Lebenszeit geht uns im Jahr verloren, weil der #Verkehr langsamer fließt, als er könnte? Unser Autor Rainer Kurlemann wirft in der Mobilitätskolumne einen Blick in verschiedene deutsche #Städte – und denkt über den Sinn des Unterwegsseins nach: #mobilität https://www.riffreporter.de/de/gesellschaft/verkehr-mobilitaet-zeitverlust-autofahren-oepnv
@riffreporter
Ich habe vor knapp 25 Jahre bei Professor #Knoflacher an der TU Wien Verkehrsplanung studieren begonnen.
Damals lernte ich ein sehr interessantes Paradoxon kennen: Die #Reisezeitkonstanz.
Was besagt diese?
Der Mensch bringt im Verkehrssystem durchschnittlich ungefähr eine Stunde täglich zu und legt dabei durchschnittlich 3,2 Wege pro Tag zurück.
Dabei ist die Zeit und die Anzahl der Wege ziemlich unabhängig vom Verkehrssystem einer Region.
Wie kommen z.B. die 3,2 Wege pro Tag zustande?
Das ist in der Früh in die Arbeit, nach der Arbeit zum Einkauf oder einer Freizeitgestaltung und danach heim. Fertig.
Durchschnittlich heißt, dass es Menschen gibt die deutlich mehr Wege zurücklegen und welche die weniger Wege machen.
Die Stunde pro Tag ist auch interessant. Die ist über alle Verkehrsteilnehmenden gerechnet. Also Fußgehende, Radelnde, ÖV-Nutzende und Autofahrende.
Baut man nun eine Straße aus, damit dort mehr Autos und schneller fahren können, so verkürzt sich die Reisezeit für einen Teil der Verkehrsteilnehmenden im Einzugsbereich dieser Straße. Für andere wird es allerdings länger, weil sie z.B. nicht mehr die alte Straße direkt benützen oder gar queren können, weil sie längere Anfahrten zur Auffahrt in Anspruch nehmen müssen ...
Beim ÖV gilt übrigens das selbe... Ersetzt man eine Tramway durch eine U-Bahn verlängern sich in der Regel für einen großen Teil der Fahrgäste die Wege zur Haltestelle und nur für wenige werden sie kürzer da es weniger U-Bahn-Stationen als Tramwayhaltestellen gibt... Und verlängerte Fußwegzeit geht deutlich länger in die bewertete Reisezeit ein, als man durch schnellere Fahrgeschwindigkeiten wieder reinkriegen kann...
Außerdem verändern geänderte Reisezeiten auch die Infrastruktur von Arbeitsplätzen, Wohnen und Versorgung über die Jahre... Die Menschen ziehen ob der schnelleren Anreisemöglichkeit z.B. verstärkt in die Umlandgemeinden (Speckgürtel) der Großstädte... und brauchen nachher - obwohl sie weiter fahren genauso lange wie vor dem Bau so einer schnelleren Straße (oder auch Bahnlinie)... Unterhält man sich mit den Menschen, hört man oft "Ich brauch genauso lang wie vorher", als Entscheidendes Argument für eine Abwanderung in den Speckgürtel.
Und damit ist der zweite Teil der Reisezeitkonstanz auch schon mit im Spiel: Die Reiseweite verlängert sich im Durchschnitt. Muss auch so sein, wenn man schneller ist, die Zeit gleich bleibt muss die Entfernung steigen.
Das Gesetz der Reisezeitkonstanz hat übrigens schon vor über 120 Jahren ein gewisser Herr Lill festgestellt. Er war Bahnhofsvorstand auf der "Kaiser-Ferdinand Nordbahn" in Österreich die ihren Endpunkt im Fernen Lemberg (heute Lviv in der Ukraine) hatte...
de.wikipedia.org/wiki/Lillsche…
Das gilt heute noch. Nur ist es nicht die Entfernung wie Lill damals angenommen hatte, sondern die Reisezeit, die entscheidend ist.
Und diese 60-80Minuten pro Tag findet sich in so gut wie jeder seriösen Verkehrserhebung weltweit... egal ob der Verkehr in einer Region autodominiert, öv-dominiert oder fußverkehrdominiert ist.
Einzig der Fahrradverkehr führt tatsächlich zu einer kürzeren durchschnittlichen Reisezeit... weil auch per Rad Fußgängerdistanzen zurückgelegt werden, nur schneller, die das Gehirn aber offenbar als Fußdistanz "kalkuliert".